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Hintergrund: 1931 – 1988

6. Das Fürsorgeamt

Weltwirtschaftskrise: Die Fürsorge in Not

Das heu­ti­ge Gebäu­de ist aus der Welt­wirt­schafts­kri­se von 1929 gebo­ren. In Mann­heim ver­dop­pel­te sich die Zahl der Arbeits­lo­sen in nur zwei Jah­ren auf 43.500 (1931). Nun dräng­ten täg­lich Hun­der­te in das Für­sor­ge­amt in R5, um die kläg­li­che „Erwerbs­lo­sen­für­sor­ge“ in bar aus­ge­zahlt zu bekom­men. Auf vier Beam­te kämen über 170 Empfänger:innen, alar­mier­te Bür­ger­meis­ter Richard Böttger.

Um die pro­ble­ma­ti­sche Lage ein­zu­däm­men, setz­ten sich SPD und Deut­sche Demo­kra­ti­sche Par­tei für den Bau von Zweig­stel­len des Für­sor­ge­am­tes in den Stadt­tei­len ein. Den Anfang soll­te die bevöl­ke­rungs­rei­che, aber ärme­re Neckar­stadt machen. Zen­trum und Deut­sche Volks­par­tei hiel­ten kate­go­risch dage­gen: Fürsorgeempfänger:innen soll­ten zum Arbei­ten gebracht wer­den, anstatt ihnen die Aus­zah­lung von Leis­tun­gen in Zweig­stel­len noch zu erleichtern.

Im Dezem­ber 1929 stimm­te schließ­lich eine Mehr­heit im Mann­hei­mer Bür­ger­aus­schuss für einen Neu­bau, der ver­schie­de­ne sozia­le Ange­bo­te bün­del­te und so ins­ge­samt güns­ti­ger gebaut wer­den konn­te. Als Bau­platz wur­de das an der Mit­tel­stra­ße zen­tral gele­ge­ne Grund­stück des inzwi­schen ver­al­te­ten Volks­brau­se­bads ausgewählt.

Eröffnung (1931): Angebotsvielfalt und „Neues Bauen“

Im März 1931 wur­de das Gebäu­de von Ober­bür­ger­meis­ter Hei­me­rich nach nur ein­jäh­ri­ger Bau­zeit ein­ge­weiht. Stolz wur­den die städ­ti­schen Ange­bo­te im Neu­bau auf­ge­zählt: mehr Platz für die Für­sor­ge im zur Pflü­gers­grund­stra­ße gele­ge­nen Gebäu­de­teil; zur Mit­tel­stra­ße aus­ge­rich­tet befan­den sich im Kel­ler ein grö­ße­res, moder­ne­res Volks­bad und in die ers­te Eta­ge war die Müt­ter­be­ra­tungs­stel­le aus der Neckar­schu­le umge­zo­gen (1).

(1) Plan des Für­sor­ge­am­tes im Erd­ge­schoss und Ober­ge­schoss (zur Pflü­gers­grund­stra­ße hin) sowie der Müt­ter­be­ra­tungs­stel­le im Ober­ge­schoss (zur Mit­tel­stra­ße hin) von 1931.1

Auch Archi­tekt Josef Ziz­ler war bei der Eröff­nung. Er galt als Ver­tre­ter des „Neu­en Bau­ens“, des­sen Fokus auf Funk­ti­on und Form lag: das Gebäu­de soll­te zweck­mä­ßig für sich ste­hen, frei von ablen­ken­den Ver­zie­run­gen sein und sich statt­des­sen durch kla­re, wohl pro­por­tio­nier­te For­men aus­zeich­nen. Abseits der Theo­rie waren kos­ten­sen­ken­de Zweck­mä­ßig­keit und Ratio­na­li­tät in den 1920er Jah­ren aber auch eine Bedin­gung, um ein Bau­vor­ha­ben über­haupt zu realisieren.

Wäh­rend das Gebäu­de­inne­re stil­si­cher nach den Prin­zi­pi­en des „Neu­en Bau­ens“ umge­setzt wur­de, ist die Fas­sa­de als Kom­pro­miss zu den umge­ben­den „Alt­bau­ten“ – vor allem zur benach­bar­ten Bern­hard-Kahn-Lese­hal­le im baro­cken Stil – zu ver­ste­hen. Ziz­ler griff auf „alt­mo­di­sche“ Ele­men­te zurück, um das neue Gebäu­de har­mo­nisch in den Stadt­teil ein­zu­bin­den: anstel­le von einer hori­zon­ta­len Fens­ter­front aus Glas und Metall wur­den schma­le, in die Höhe stre­ben­de Fens­ter mit Stein umrahmt; anstatt eines moder­ne­ren Flach­dachs wur­de auf ein Walm­dach zurück­ge­grif­fen (2).

(2) Die Fas­sa­de der Mit­tel­str. 42 wur­de bewusst als Kom­pro­miss aus moder­ner Zweck­mä­ßig­keit und dem baro­cken Stil der benach­bar­ten Bern­hard-Kahn-Lese­hal­le (rechts) gestal­tet. Plan von 1931.2

Einrichtung des Fürsorgeamtes

Das Tor ins frü­he­re Für­sor­ge­amt und ins heu­ti­ge Crea­ti­ve Busi­ness befin­det sich in der Pfü­gers­grund­stra­ße. Besucher:innen des Amtes wur­den bewusst hier­her gelei­tet, um die Mit­tel­stra­ße bei star­kem Andrang frei­zu­hal­ten. Damals wie heu­te führ­te eine kur­ze Trep­pe von der Stra­ße in den Ein­gang­be­reich (Hoch­par­terre). Den Trep­pen­auf­gang schmü­cken noch heu­te zwei Sand­stein-Reli­efs aus Bau­er und Bäue­rin, die in den Bau­ak­ten nicht erwähnt wer­den aber die den Besucher:innen wohl die Früch­te flei­ßi­ger Arbeit vor Augen hal­ten soll­ten (3).

Von der luf­ti­gen Ein­gangs­hal­le (4) waren die 17 Büros erreich­bar, die sich auf Hoch­par­terre, Ober­ge­schoss und Dach­ge­schoss ver­teil­ten und über eine Trep­pe in der Gebäu­de­mit­te ver­bun­den waren. Die brei­ten Gän­ge dien­ten als War­te­räu­me. Der wohl wich­tigs­te Raum – die Kas­se – lag in der Hoch­par­terre und konn­te von Besucher:innen über einen sepa­ra­ten Aus­gang zur Mit­tel­stra­ße ver­las­sen werden.

(4) Blick in die Ein­gangs­hal­le (Edrge­schoss) des Für­sor­ge­am­tes Neckar­stadt. Foto von 1931.4

Begrenzter Sozialstaat: Die Fürsorge in der Weimarer Republik (1919–1933)

Das Für­sor­ge­amt an sich ist eine Erfin­dung der Wei­ma­rer Repu­blik, knüpf­te aber an die Armen­pfle­ge des Kai­ser­reichs an. Die Mit­tel der staat­li­chen Für­sor­ge (sog. „Lie­bes­dienst“) waren aller­dings sehr begrenzt und reich­ten nur für das finan­zi­ell Nötigs­te beson­de­rer Grup­pen: Arme, Kriegs­ge­schä­dig­te, Rentner:innen, Men­schen mit Behin­de­run­gen und Schwangere.

Statt­des­sen gewan­nen die Für­sor­ge­äm­ter als koor­di­nie­ren­de Stel­le der pri­va­ten Für­sor­ge an Bedeu­tung. Denn die prak­ti­sche Sozi­al­ar­beit wur­de von kon­fes­sio­nel­len und pari­tä­ti­schen Wohl­fahrts­ver­bän­den geleis­tet: z.B. sam­mel­ten und ver­teil­ten die Ver­bän­de Nah­rung, Klei­dung und Brenn­stoff an Bedürf­ti­ge. Den­noch über­nahm auch der Staat in den 1920er Jah­ren mehr Ver­ant­wor­tung in der Für­sor­ge. Maß­geb­lich waren u.a. 1924 die Für­sor­ge­pflicht der Gemein­den (so muss­te auch in Mann­heim ein Für­sor­ge­amt gebaut wer­den) und 1927 die Gewäh­rung von „Erwerbs­lo­sen­hil­fe“.

Rassenideologie und Verfolgung: Das Fürsorgeamt im Nationalsozialismus (1933–1945)

Im Natio­nal­so­zia­lis­mus erhiel­ten etwa Rentner:innen oder Kriegs­ge­schä­dig­te wei­ter­hin im Für­sor­ge­amt ihre mage­re Hil­fe. Doch der Für­sor­ge­zweck wur­de nun umge­dreht: Für­sor­ge­po­li­tik soll­te nicht län­ger dem Ein­zel­nen hel­fen ein wür­di­ges Leben zu füh­ren, son­dern es soll­te die ras­sis­tisch ver­stan­de­ne „Volks­ge­mein­schaft“ gestärkt wer­den. Das Für­sor­ge­amt arbei­te­te eng mit ande­ren Behör­den und der Poli­zei zusam­men, um Men­schen mit abwei­chen­dem Ver­hal­ten aus die­ser „Volks­ge­mein­schaft“ gewalt­sam aus­zu­schlie­ßen. Betrof­fen waren u.a. Jüd:innen, Men­schen mit Behin­de­rung und ver­meint­li­che „Aso­zia­le“. Wer als „aso­zi­al“ galt, ent­schie­den v.a. die Für­sor­ge­äm­ter: Dar­un­ter fie­len Pro­sti­tu­ier­te, Obdach­lo­se, sog. „Arbeits­scheue“ und pau­schal alle Sinti*zze und Rom*nja.

Die Für­sor­ge­äm­tern nutz­ten ver­schie­de­ne For­men der Aus­gren­zung und Ver­fol­gung: Häu­fig ent­zo­gen sie „unlieb­sa­men“ Empfänger:innen pau­schal Leis­tun­gen. Men­schen mit Behin­de­rung und Alko­hol­kran­ke wur­den ab Juli 1933 beim Erb­ge­sund­heits­ge­richt ange­zeigt, wo ihnen ent­spre­chend dem „Gesetz zur Ver­hü­tung erb­kran­ken Nach­wuch­ses“ die Zwangs­ste­ri­li­sa­ti­on droh­te (980 Fäl­le in Mann­heim 1933–1938). Tau­sen­de Fürsorgeempfänger:innen in Anstal­ten wur­den ab 1939 bis Kriegs­en­de im Rah­men der „Akti­on T4“ ermor­det. Eben­so ver­wies auch das Für­sor­ge­amt Neckar­stadt Vie­le sog. „Aso­zia­le“ mit dem schwar­zen Win­kel in den Tod der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger (5).

(5) In der NS-Ideo­lo­gie galt „aso­zia­les“ Ver­hal­ten als erb­lich, sodass Ein­zel­ne und gan­ze Fami­li­en vom Für­sor­ge­amt pau­schal als „Aso­zia­le“ stig­ma­ti­siert, ver­folgt und ins KZ geschickt wur­den. NS-Pro­pa­gan­da­pla­kat von 1936.5

Ausblick: Das Sozialamt in der Bundesrepublik

In der Bun­des­re­pu­blik wur­de die Für­sor­ge in die­sem Gebäu­de nach dem Prin­zip des Rechts- und Sozi­al­staats und ab 1962 unter dem Namen Sozi­al­amt fort­ge­setzt. Erst im Früh­jahr 1988 zog das Amt in das Felina-Are­al um. Die dar­auf­hin lee­ren Amts­räu­me wur­den zwi­schen­zeit­lich als Asyl­un­ter­kunft ver­wen­det und 1992 nach­träg­lich eini­ge Büros in der Hoch­par­terre wie­der für eine Asyl-Betreu­ungs­stel­le des Sozi­al­am­tes frei­ge­macht. Unter­kunft und Betreu­ungs­stel­le wur­den Mit­te der 1990er jedoch wie­der geschlos­sen. Schon 1998 zog ein Teil des Neckar­städ­ter Sozi­al­amts erneut in die Räu­me des ehe­ma­li­gen Für­sor­ge­amts ein (6), zog um 2010 aber end­gül­tig aus und mach­te dem heu­ti­gen Crea­ti­ve Busi­ness Platz.

(6) Sit­zung in den reno­vier­ten Räu­men des Sozi­al­am­tes von 1998.6

Abbildungsnachweise

  1. MARCHIVUM, Plan­samm­lung, PL01712. ↩︎
  2. MARCHIVUM, Plan­samm­lung, PL01716. ↩︎
  3. Pri­vat (Lukas Kraus), 2024. ↩︎
  4. MARCHIVUM, Alben, GP00001, Nr. 17. ↩︎
  5. NS-Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum Köln (https://museenkoeln.de/ns-dokumentationszentrum/medien/abb/390/4298_6279.jpg). ↩︎
  6. „Mehr als ein neu­er Anstrich. Sozi­al­amt reno­vier­te Volks­bad“, in: Mann­hei­mer Mor­gen vom 4.9.1998 (Nr. 204), S. 22. ↩︎